Christoph Marthaler auf der Suche nach Händel
Die Masken des Roten Todes
Als Andreas Homoki, seit Sommer 2012 Intendant am Zürcher Opernhaus, Christoph Marthaler mit der Inszenierung einer Händel-Oper beauftragte, stand alsbald fest, dass es wohl keine historische Veranstaltung geben würde. Vielmehr begab sich Marthaler auf die Suche nach einem authentischen Händel der Gegenwart.
"Was wäre eigentlich der Kern, das Wesen von Händels Musik?" – so Marthalers Frage und Ausgangspunkt. Sein Musiktheater mit dem enigmatischen Titel 'Sale' hat eine einfache, aber überzeugende Antwort formuliert: "die Melancholie des Verlustes". Zusammen mit Anna Viebrock, Laurence Cummings und Malte Ubenauf kombinierte Marthaler ein loses Set aus größtenteils bekannten Ensemble- und Instrumentalstücken sowie Chören und Arien aus Opern und Oratorien – insgesamt 24 Nummern, die Händel so wohl zwar nicht nebeneinander präsentiert hätte, wie sie aber in der historischen Form des Pasticcio durchaus vorstellbar wären.
Der einschlägige Titel 'Sale' ist Programm. Schon bevor sich im Zürcher Opernhaus der Vorhang öffnet, geht das Wort dem Theater als Slogan voraus wie die alte Kinoreklame dem eigentlichen Film. Marthaler geht es um mediale Präsenz und die trivialste Bedeutung des Wortes: um den totalen Ausverkauf. Seit den katastrophalen Pleiten von Schlecker und Hertie verbindet niemand mehr Luxus und Wohlstand mit der Idee des Warenhauses. Die Einkaufspassagen des 19. Jahrhunderts, der Grand bazar in Paris oder das Harrods in London, hatten einst diese Idee von einer besseren Welt des Konsums und der Ware versprochen. Aber nur all zu wenig ist von diesem Traum in der heutigen "Welt als Supermarkt" (Michel Houellebecq) noch übrig geblieben. Marthaler ist hier wie Houellebecq zunächst ein gnadenloser Beobachter seiner Zeit und keineswegs Moralist.
Der Aufführungsort von 'Sale' ist das wohlhabende Zürich, aber die Innenwelt der Außenwelt des Kapitals dann doch ein trostloses Allerweltskaufhaus mit summender Rolltreppe und chaotischen Wühltischen. Eine Ruine des Kapitalismus, entworfen von Anna Viebrock. Eine lange quälende Stille, wie sie Marthaler fast immer in seine Dramaturgien einbindet belebt das Kaufhaus von Innen her nur zögerlich. Eine Geschichte will zunächst gar nicht in Gang kommen. Da das musikalische Pasticcio keine Rezitative enthält, wird von Händel auch keine Handlung übernommen, und doch hat Marthaler der Musik ein faszinierendes Narrativ untergeschoben. Von Edgar Allen Poe entlehnt er die Geschichte der "Maske des Roten Todes": das Schicksal einer aristokratischen Familie, die sich von der Außenwelt abschottet und doch im heilen Interieur einem fatalen Ende nicht zu entfliehen vermag. Auch bei Marthaler kommt der Tod schneller als erwartet und er erfasst alle Beteiligten wie ein Dieb in der Nacht. Im Zeichen der Ironie, die in der Postmoderne immer auf den Nihilismus folgt, schließt Marthaler aber nicht mit dem Ende der totalen Dekadenz, sondern mit der Überdekadenz einer inszenierten Premierefeier – passend in Schale geworfen zu den euphorischen Klängen der 'Music for the Royal Fireworks'.
Mit seiner Meisterinszenierung 'Sale' hat Christoph Marthaler am Zürcher Opernhaus nach so fadenscheinigen Pseudoprovokationen wie Michielettos 'Poliuto' wieder einmal für echten, dramaturgischen Zündstoff gesorgt und damit einen wunden Punkt im Herzen des Zürcher Publikums getroffen. Die vielen Proteste und Buhrufe, die es am Ende zu hören gab, dürften sich als empörte Frage verstehen lassen, was dies denn nun eigentlich noch mit Händel und unserem Kulturerbe zu tun habe? Doch diese Frage wäre nicht leicht und vorschnell zu beantworten. Vielleicht ist sie auch nicht allzu gut gestellt. Man könnte die gesellschaftliche Symptomatologie von 'Sale' sicher in eine Tradition mit Wagners 'Ring' oder Thomas Manns 'Buddenbrooks' stellen, doch dies würde zumindest einen wichtigen Unterschied überspielen, der gerade in dem programmatischen Titel deutlich zum Ausdruck kommt. Marthalers 'Sale' ist eine Geschichte des Verfalls und des Ausverkaufs nicht innerhalb, sondern nach der Dekadenz der europäischen Eliten und historisch situiert in der Zeit einer anderen, abstruseren Wiederkehr des Gleichen.
Als Hoffnungsmomente in dieser Lethargie setzt Marthaler gefühlvoll, aber nicht ohne Ironie die Essenz von Händels Musik. Marthaler mag offenkundig ein Kritiker der historischen Aufführungspraxis sein; respektlos ist der studierte Oboist und Blockflötist mit Händels Musik dennoch zu keinem Zeitpunkt umgegangen. Klingender Beweis dafür war nicht zuletzt die reibungslose Zusammenarbeit mit dem renommierten Orchester La Scintilla unter Laurence Cummings, der zur visuellen Überraschung in 'Comfort ye' aus dem 'Messiah' sogar selbst als Sänger zu hören war. Sein Ensemble präsentierte wahre Glanzstücke der Händel-Interpretation; freilich die legendäre Anne Sophie von Otter, aber auch die Sopranistin Malin Hartelius und insbesondere der ungemein präzis intonierende Countertenor Christophe Dumaux. Die wenigen Stellen, in denen sich die Musik und Marthaler, das Pasticcio und Edgar Allen Poe tatsächlich überkreuzten, werden als Augenblicke eines großen Musiktheaters noch lange in Erinnerung bleiben. In dem immer wieder neu ansetzenden, trostlos-hoffnungsvollen 'Lascia ch’io pianga' ließe sich vielleicht das Zentrum von Marthalers Inszenierung verorten. Es war der Moment, in dem das Warenhaus symbolisch beerdigt wurde und die Musik zu ihrer eindrucksvollsten Schönheit fand.
Kritik von Toni Hildebrandt
Kontakt zur Redaktion
Sale: Ein Projekt von Christoph Marthaler
Ort: Opernhaus,
Werke von: Georg Friedrich Händel
Mitwirkende: Anna Viebrock (Bühnenbild), Laurence Cummings (Dirigent), La Scintilla (Orchester), Anne-Sophie von Otter (Solist Gesang), Malin Hartelius (Solist Gesang), Christophe Dumaux (Solist Gesang)
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