Zur Premiere von Donizettis 'Poliuto' in Zürich
Macht im Melodram
Gaetano Donizetti komponierte die Musik für 'Poliuto' bereits im Jahre 1838, doch erst im November 1848 konnte die Oper in Neapel ihre Premiere vor italienischem Publikum feiern. Probleme mit Zensur und Libretto hatten die Uraufführung verzögert. Zwar war im April 1840 in Paris unter dem Titel "Les Martyrs" eine überarbeitete Fassung erklungen, doch der auf Corneille basierende Stoff sollte noch auf lange Zeit die Gemüter erhitzen und beunruhigen. Nachdem die vordergründige Brisanz im Laufe der Jahre verflogen war, das Sujet nicht mehr zu provozieren vermochte und auch Donizettis manieristischer Kompositionsstil von Verdi und Wagner abgelöst schien, sah man sich folglich gezwungen, dem Werk durch eine "inszenierte Radikalität" aus dem eigenen historischen Dilemma zu verhelfen. Das betraf schon die frühesten Inszenierungsstrategien im 20. Jahrhundert. Noch 1955 musste etwa der italienische Tenor Giacomo Lauri-Volpi in den römischen Caracalla-Thermen zu lebendigen Löwen hinabsteigen, um der Blasiertheit seiner Figur eine zusätzliche künstlerische Spannung zu verleihen.
2012 am Opernhaus Zürich ist das nicht anders, nur ist jetzt an die Stelle der Löwen - dem Genius loci entsprechend - eine Meute von Bankiers getreten. Die wohlwollende Rezension in der Neuen Zürcher Zeitung sprach sogleich von einem "Märtyrer als Widerstandskämpfer" und einer gelungenen Übertragung in unsere heutige Zeit. Zumindest das durchaus kritische Zürcher Publikum war ganz anderer Meinung und bemühte sich im Schlussapplaus lautstark um eine Differenz zwischen der erstklassigen musikalischen und der eher blassen szenischen Interpretation. Manchmal hatte man das Gefühl, als wolle sich der junge italienische Regisseur Damiano Michieletto als der neue Calixto Bieito gerieren. Doch was dem spanischen Provokateur in den letzten Jahren oft zu politisieren gelang, verlief in Zürich mit dem 'Poliuto' in einer Leere, die nur noch plakativ an eine mögliche Kritik der Gegenwart appellieren konnte.
Donizettis Stück mag in gewisser Weise von "Masse und Macht" (Canetti) sprechen: Das römische Imperium sei die diktatorische Staatsmacht, die Christen hingegen unterdrückte Widerstandskämpfer. Zudem steckt in den einzelnen Protagonisten der Konflikt von Individuum und Staatsgewalt. So weit, so gut. Doch wo wäre hier genau der Bezug zu einer wirklichen Realpolitik zu finden? Weit davon entfernt, hier eine Antwort zu formulieren, inszeniert Damiano vielmehr die vage Politisierung einer Gut-und-Böse-Welt, wie man sie doch zur Genüge aus den großen Spektakeln des Kommerzkinos kennt, und wie sie wohl eben auch im Libretto und der Operndramaturgie vorformuliert zu sein scheint.
Aus diesem Dilemma retten den Zürcher 'Poliuto' dann auch nicht mehr die vielen gelungenen Details – etwa das erste bewegte Bühnenbild, das entfernt an Hodlers "Auszug Jenenser Studenten in den Freiheitskampf" erinnern konnte oder die (auch ein wenig von Bieito entlehnte) Märtyrerszene im Schlussakt. Diese Szenarien haben jedoch vor allem deswegen eine suggestive Kraft, weil sie ihre Bilder aus einer Gegenwelt beziehen, die so gar nicht in der Handlung und Imagination der Oper selbst angelegt ist. Muss es dann aber nicht zusätzlich verwundern, dass die Dramaturgie erst wirklich an Konsistenz gewinnt, da sie sich vom eigentlichen Handlungsspielraum befreit?
Man kann die Schweizer Erstaufführung des 'Poliuto' letztlich nur empfehlen, wenn man sich darauf zurückbesinnt, dass Donizetti natürlich primär der überragende Musikdramatiker vor Giuseppe Verdi war. Wohl kein Zweiter hat die romantische Ensemble-Kultur des Quartetts so brillant beherrscht und perfektioniert wie der Komponist aus Bergamo. Am Zürcher Opernhaus wurden mit Massimiliano Pisapia, Fiorenza Cedolins, Massimo Cavalletti und Riccardo Zanellato erstklassige Solisten, zum Teil in Rollendebuts, gewonnen, und mit Nello Santi ein erfahrener Dirigent, dessen Stil auch ein wenig zur antiquierten Stimmung des ganzen Abends passen mochte. Denn wenn schließlich die kuriose französische Ouvertüre mit ihren vier Fagotten und dem integrierten Chor als einziger Höhepunkt einer politischen Inszenierung in Erinnerung bleibt, ist es wohl auch um die Politik der Bilder einer lyrischen Oper auf dem Weg zum Melodram eher schlecht bestellt.
Kritik von Toni Hildebrandt
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Poliuto: Tragedia lirica in drei Akten
Ort: Opernhaus,
Werke von: Gaetano Donizetti
Mitwirkende: Nello Santi (Dirigent), Orchester des Opernhauses Zürich (Orchester), Massimiliano Pisapia (Solist Gesang), Fiorenza Cedolins (Solist Gesang), Massimo Cavalletti (Solist Gesang)
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