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Ambrogio Maestri, © Monika Rittershaus
Calixto Bieito inszeniert Verdi
Wer ist Falstaff?
Karl Lagerfeld hätte beim Anblick von diesem Sir Falstaff zu Recht konstatiert: ‚Wer eine Jogginghose trägt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren.‘ Regisseur Calixto Bieito macht an der Staatsoper Hamburg aus Falstaff einen angeranzten grenzenlosen Hedonisten, der bar jedweder vernünftigen Selbsteinschätzung dahinvegetiert. Einer, der sich selbst aufgegeben hat und jetzt im ausgewaschenen gelben T-Shirt, in Jeans und Turnschuhen im Pub 'The Boars Head' lüstern haust. Das Pub spiegelt in der intelligenten Bühnenkonzeption von Susanne Gschwender Falstaffs Wesen wider: Es dreht sich und verliert im Verlauf der Oper praktisch alle Wände, wird durchsichtig, genauso wie das Treiben von Falstaff.
‚Tutto nel mondo è burla‘, so erklingt es im Finale dieser 'Commedia lirica', wie die korrekte Bezeichnung lautet. Verweist dieses ‚Alles um uns herum ist Narretei‘ nicht schon auf Friedrich Dürrenmatt, der rund 60 Jahre nach der Uraufführung von 'Falstaff' formulierte: ‚Die Tragödie setzt Schuld, Not, Maß, Übersicht, Verantwortung voraus. In der Wurstelei unseres Jahrhunderts [...] gibt es keine Schuldigen und keine Verantwortlichen mehr. … Uns kommt nur noch die Komödie bei.‘
Mutiger Inszenierungsansatz
Calixto Bieito hat eingedenk dieses Sachverhaltes seinem Falstaff die Ironie genommen. Man schwankt von Anbeginn zwischen Mitleid und Angewidertsein mit dieser Kreatur, die da maßlos Austern und Champagner in sich reinschlürft und ohne Filter zur Schau gestellt wird. Und die ihn umgebende Gesellschaft ist im Prinzip nichts anderes als sein Spiegelbild. Ach, da fehlt bühnenmäßig so alles, was man als feinsinniger Connaisseur erwartet. Ein Inszenierungsansatz, der in der Tat an diesem Premierenabend nicht jedem Opernfreund gefiel, auch weil Bieito en passant ohne erhobenen Zeigefinger so ziemlich alle derzeitigen Probleme von Verschwendung bis MeToo usw. diskret abhandelt. Folgerichtig ging auch am Ende ein kräftiges Buh auf das Regieteam nieder. Zu Unrecht, denn die Staatsoper Hamburg hat wieder einmal den Mut bewiesen, ausgetretene Interpretationspfade zu verlassen. So wird Oper spannend. Diese Inszenierung regt zum Denken an. Dem mochten wohl viele Opernhedonisten nicht folgen und gingen während der Pause nach Hause.
Axel Kober führt das Philharmonische Staatsorchester sicher durch Verdis komplexe Partitur. So wird hörbar, wie Verdi jede Nuance des Dramas musikalisch umsetzte und wie subtil Bieito die Handlung gemäß dieser Musik choreographierte. Die Leistung des Ensembles verdient vor diesem Hintergrund großen Beifall, denn diese Art der Inszenierung gelingt nur bei höchster Präzision und Intensität in der Darstellung.
Einer der besten Falstaff-Sänger
Mit dem Bariton Ambrogio Maestri stand einer der derzeit besten Falstaff-Sänger auf der Bühne. Er verkörpert seit ca. 20 Jahren den Falstaff auf den Opernbühnen der Welt und bewies auch in Hamburg darstellerisch und gesanglich seine überragenden Qualitäten. Das Quartett der erfinderischen Damen Alice (Maija Kovalevska), Nannetta (Elbenita Kajtazi), Meg (Ida Aldrian) und Quickly (Nadezhda Karyazina) überzeugte ebenfalls darstellerisch und gesanglich ohne Abstriche. Hervorzuheben ist Nadezhda Karyazina mit ihrer betörenden wohlklingenden Alt-Stimme. Überzeugend auch Bariton Markus Brück als Alices Gatte Ford, der seine Stimme bei der Lobpreisung der Eifersucht bis an die Grenzen des Möglichen auslotete. Der Mann ist eben außer sich und das hat Markus Brück vokal bestätigt. Hierzu im Gegensatz der lyrische Ansatz von Olesksiy Palchykov als Fenton. Dieses Spitzenangebot an Sängern und die bei aller Kritik hochinteressante Sichtweise von Regisseur Calixto Bieito sorgten für einen intelligenten Opernabend.
Kritik von Michael Pitz-Grewenig
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Falstaff: Oper von Verdi
Ort: Hamburgische Staatsoper,
Werke von: Giuseppe Verdi
Mitwirkende: Axel Kober (Dirigent), Philharmonisches Staatsorchester Hamburg (Orchester), Calixto Bieito (Regie), Ambrogio Maestri (Solist Gesang)
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