1 / 5 >
"Das Floß der Medusa" in der Jahrhunderthalle Bochum, © Ursula Kaufmann/Ruhrtriennale 2018
'Das Floß der Medusa' von Hans Werner Henze
Gelungene Konzert-Installation
Mit Hans Werner Henzes eindringlichem und überwältigendem Oratorium 'Das Floß der Medusa' erinnern die Bochumer Symphoniker, das Vokalensemble Chorwerk Ruhr, die Zürcher Singakademie und ein souveräner Knabenchor der Chorakademie Dortmund unter der Leitung von Steven Sloane an einen selten aufgeführten Komponisten, der wie kaum ein anderer seiner Zeitgenossen ein musikalisch-politisches Sprachrohr der Unterdrückten sein wollte – ohne neue ästhetische Entwicklungen zu negieren. Er blieb ein Außenseiter nach dem Zweiten Weltkrieg, wo man künstlerischen Neuanfang in mikrotonalen, seriellen und elektronischen Experimenten suchte, musikalischen Fortschritt aus rein ästhetischer Perspektive betrachtete und die Beschäftigung mit der ‚absoluten Musik‘ in den Vordergrund rückte.
'Das Floß der Medusa' ist ein 1971 in Wien uraufgeführtes, Ernesto Che Guevara gewidmetes Auftragswerk des NDR, in dem sich Henze an einen zum politischen Symbol gewordenen Schiffbruch aus dem Jahre 1816 erinnert. Unsachgemäßes Navigieren, wie der Wundarzt Savigny und Landvermesser Corréard in ihrem 1817 auf Französisch erschienenen Logbuch berichteten, hatte 'La Méduse' vor der Küste Westafrikas auf Sand gesetzt. Rund 150 Soldaten, Matrosen, Frauen und Kinder überließ man auf einem Floß ihrem Schicksal, während Kapitän, Kommandant, Offiziere und ihre Familien in den begleitenden Schiffen unterkamen und davonsegelten. 15 Tage Hunger, Durst, Revolte, Gewalt und Sterben auf dem Meer. 14 Menschen konnten schließlich lebend gerettet werden.
Überlebenskampf auf dem Meer
1819 gedenkt Théodore Géricault der neuen politischen Helden in einem gewaltigen, dramatisch-pathetischen Ölgemälde, das zu Beginn des Abends auf Rückseite und Bühnenboden projiziert wird. Dargestellt ist der Überlebenskampf auf dem stürmischen Meer. Männer klammern sich aneinander, formen eine Menschenpyramide, an deren Spitze zwei von ihnen – den fernen Horizont fest im Blick – ein rotes bzw. weißes Tuch schwenken, um auf sich aufmerksam zu machen. Der übrige Boden des Floßes bzw. der Bühne ist sandiger Meeeresgrund mit Knochen und Leichenteilen. Wunderbar, wie Bühnen- und Kostümbildner Márton Agh Géricaults Ölgemälde und das Bühnenbild zu einer sprechenden Einheit formt. Kranke und Sterbende bilden den Übergang, gleiten hinab. Entsprechend der Anzahl der Soldaten, Matrosen, Frauen und Kinder auf dem Floß stehen ca. 150 Musikerinnen und Musiker auf der Bühne. Kornél Mudruczó, der ungarische Film- und Theaterregisseur, der für diese Inszenierung der Ruhrtriennale 2018 verantwortlich zeichnet, greift das einzige szenische Element, das Hans Werner Henze und sein Librettist Ernst Schnabel vorgesehen haben, auf. Ruhig wechseln die Chormitglieder ihre Gewänder, legen einen beige-weißen Umhang ab oder um. So schreiten feierlich immer mehr Menschen von der linken Seite der Lebenden auf die rechte Seite der Toten.
Einfühlsame Bilder
‚Ich machte es wie Géricault‘, schreibt Henze, ‚ich sah sie und machte sie mit meinen eigenen Mitteln, nach meinen eigenen Kriterien so schön und so edel in ihrem Leiden wie keinen der größten Heroen oder Gottheiten der Weltgeschichte.‘ Henzes Oratorium ist eine komplexe Zwölftonkomposition. Statt pathetischer Überhöhung lässt der Komponist einen Sprecher, den von Tilo Werner grandios rezitierten Fährmann Charon und den Bariton Jean-Charles aus dem Logbuch berichten. Jean-Charles, virtuos interpretiert von Holger Falk, ist von Widersprüchen im Kampf ums Überleben zerrissen. Sein ungewöhnlicher, kunstvoller Sprechgesang schwebt zwischen Gesang und Sprachmelodie. Dazu verdichten sich Chor und tiefe Blechregister zu drohenden Klanggebärden. Auf der anderen Seite locken La Mort, klangvoll und meisterlich interpretiert von Marisol Montalvo, zusammen mit stehenden Klangflächen der Streicher und zartem, engelhaftem Knabengesang.
Mudruczós einfühlsame Bilder setzen Lichtakzente und stellen dem ständig neuen Auf- und Abschwingen in der Musik immer großflächiger expandierende, ruhige Wasserbewegungen aus der Tiefe des Meeres entgegen. Und doch setzen Bühnenbild und Regie eigene dramatische Akzente. Zunächst unmerklich und dann unüberhörbar verrieselt der Meeressand, führt die vielen Menschenknochen und Skelette vor Augen. Und während der Sprecher von der Rettung berichtet, das Orchester den Rhythmus der Ho-Ho-Ho-Chi-Minh-Parolen der 68er aufgreift, werden laufende Porträts überlebender Menschen unserer Zeit gezeigt, vervielfältigen sich, laufen gegeneinander, nachdem die Musik verklungen ist. Ein bewegender, nachdenklich stimmender Abend.
Kritik von Ursula Decker-Bönniger
Kontakt aufnehmen mit dem Autor
Kontakt zur Redaktion
Das Floß der Medusa: Oratorium von Hans Werner Henze
Ort: Jahrhunderthalle,
Werke von: Hans Werner Henze
Mitwirkende: Bochumer Symphoniker (Orchester)
Dieser Beitrag hat Ihnen gefallen? Empfehlen Sie ihn weiter!
Ihre Meinung? Kommentieren Sie diesen Artikel.
Jetzt einloggen, um zu kommentieren.
Sind Sie bei klassik.com noch nicht als Nutzer angemeldet, können Sie sich hier registrieren.
Portrait

"Auf der Klarinette den Sänger spielen, das ist einfach cool!"
Der Klarinettist Nicolai Pfeffer im Gespräch mit klassik.com.
Sponsored Links
- klassik.com Radio
- Urlaub im Schwarzwald
- Neue Musikzeitung
- StageKit - Websites für Musiker, Veranstalter und Konzertagenturen
Hinweis:
Mit Namen oder Initialen gekennzeichnete Beiträge geben die Meinung des Verfassers,
nicht aber unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Die Bewertung der klassik.com-Autoren:
Überragend
Sehr gut
Gut
Durchschnittlich
Unterdurchschnittlich