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Berliner Symphoniker in der Berliner Philharmonie, © Berliner Symphoniker
'Paradise Lost' und 'Rule Britannia' in Berlin
Britische Raritäten von Wagner & Co.
Obwohl ich schon seit Jahrzehnten am Konzertleben der Hauptstadt teilnehme, hatte ich es bisher nie geschafft, die Berliner Symphoniker zu hören – obwohl mir ihre grünen Poster mit dem von Moos umwachsenen Notenschlüssel schon oft begegnet sind. Irgendwie hatten mich jedoch die Optik der Anzeigen und die angekündigten Künstler kalt gelassen. Bis jetzt. Denn unter dem Titel 'Very British' stand nun ein Nachmittagskonzert in der Philharmonie auf dem Programm, wo es neben Henry Purcell, Edward Elgar, Ralph Vaughan Williams, William Walton und Richard Wagner mit seiner 'Rule Britannia'-Ouvertüre auch ein ‚Sinfonisches Poem‘ von Clement Harris zu hören gab: 'Paradise Lost' nach John Miltons Epos.
Sohn eines Londoner Schiffsmaklers
Harris und seine etwa 20-minütige Tondichtung hatte ich letztes Jahr kennengelernt im Rahmen einer Ausstellung über Siegfried Wagner, schwuler Sohn von Richard und nach Cosimas Rückzug aus dem Geschäftsleben Leiter der Bayreuther Festspiele. Der Engländer Harris, Sohn eines vermögenden Londoner Schiffsmaklers, kam 18-jährig nach Frankfurt am Main, um als letzter Schüler bei Clara Schumann am Konservatorium zu studieren. In Frankfurt lernte er als begeisterter Wagnerianer Siegfried kennen und lieben. Mit ihm plante er eine Flucht aus den beengenden Verhältnissen in Europa, wo Homosexualität eine Straftat war und mit Gefängnis geahndet wurde. Die beiden jungen Männer brauchen 1892 (gegen den Willen Cosimas) zusammen zu einer Schiffsreise nach Asien auf, als einzige Passagiere auf einem Frachtschiff. Auf dieser Reise – man könnte von Flitterwochen sprechen – komponierte Siegfried seine erste Tondichtung 'Sehnsucht', während Clement 'Paradise Lost' schrieb. Von dieser Reise gibt es wunderbare Aquarelle, die im Richard Wagner Museum Bayreuth liegen und vermutlich Teil der angekündigten Siegfried-Ausstellung 2019 sein werden, es gibt auch Tagebuchberichte über die sorgenfreie Zeit zusammen (in einer Kajüte mit einem Bett). Und es gibt die leider viel zu selten zu hörenden Tondichtungen.
Zwar kann man 'Paradise Lost' (zusammen mit 'Sehnsucht') auf Tonträger hören, aber natürlich ist es etwas anderes, dieses üppig instrumentierte Werk leibhaftig im Konzertsaal zu erleben. Man spürt deutlich die Richard-Wagner-Einflüsse, die Anklänge an 'Lohengrin' und 'Tannhäuser', die flirrenden Streicher, fernen Trompeteneinwürfe, massiven Klangballungen und vor allem den jugendlichen Elan eines Idealisten, der wenig später im Freiheitskampf der Griechen gegen die Türken ums Leben kam.
'Paradise Lost' ist sicherlich keine bedeutende Komposition im Sinne von: einflussreich für die Musikgeschichte. Aber es ist ein spannendes Stück, vor allem wenn man abseits des heteronormativen Mainstream mal ein Werk eines homosexuellen Künstlers hören möchte, das auch noch im Rahmen einer homoerotischen Liebesreise entstanden ist und das gemeinsame Glück im Schatten des Paragrafen 175 deutlich reflektiert. Bei der Wiedergabe der Berliner Symphoniker überraschten mich der satte Streicherklang (inklusive ein berückendes Solo des Konzertmeisters) und das explosive Schlagwerk. Leider dirigierte Lionel Friend das Ganze jedoch eher mit kapellmeisterlicher Solidität statt mit spürbarer Inspiration und Liebe zum Detail.
Das gilt auch für alle anderen Werke des Programms. Ich saß oft da und fragte mich, wie das wohl wirken würde, wenn jemand wie Robin Ticciati oder Simon Rattle zu solch einem 'Very British'-Konzert geladen hätten? Sicher wäre der Große Saal der Philharmonie besser gefüllt gewesen. Und wer die jüngsten Ticciati-Konzerte mit dem DSO kennt, weiß, was er aus Stücken wie 'Paradise Lost' alles herausgezaubert hätte.
Zwölftöner und Serialisten
Unter Lionel Friend blieben all diese Raritäten eher eine Kennenlernveranstaltung ohne Überwältigungseffekt: Richard Wagners frühe 'Rule Britannia'-Ouvertüre wurde in der Urfassung gegeben, in der man sie – wenn überhaupt – nie hört. Es krachte ordentlich und wollte gar nicht enden, hätte aber mitreißender rüberkommen können, mit mehr Gespür für Steigerung und Höhepunkte.
Überraschend fand ich das charmante Tuba-Konzert von Vaughan Williams mit dem Solisten Elliot Dushman. Es stammt aus den 1950er-Jahren und dokumentiert eine ganz andere Musiksprache als damals in Deutschland unter zeitgenössischen Komponisten üblich. Weswegen das Stück hierzulande auch nie bekannt wurde – vermutlich haben die hiesigen Zwölftöner und Serialisten solch durch und durch tonale Musik zu verhindern gewusst, denn sie hätte ihre eigenen Werke in gänzlich humorlosem Licht dastehen lassen. Das gilt übrigens auch für die mit afrikanischen Elementen durchsetzte 'Johannesburg Festival Overture' von William Walton, auch aus den 1950er-Jahren. Ein tolles Stück mit viel Humor und Spielfreude (die man den Musikern der Berliner Symphoniker allerdings nur begrenzt ansah).
The March of Women
Als Gesamtprogramm empfand ich den Nachmittag lang. Die vollständigen 'Enigma Varations' von Elgar (fast eine halbe Stunde Spieldauer) und dann all die anderen Werke von jeweils 15 bis 20 Minuten Länge streckten diese 'Very British'-Veranstaltung extrem. Und dass bei dieser Zusammenstellung von seltenen britischen Komponisten keine einzige Frau dabei war – wo auch in England gerade 100 Jahre Frauenwahlrecht gefeiert wird – ist betrüblich. Ethel Smyth hätte mit ihrem 'The March of Women' oder der Ouvertüre zu einer ihrer Opern besser ins Programm gepasst als Purcell mit seiner 'Chacony g-Moll' in der Bearbeitung von Benjamin Britten.
Was mich etwas geschockt hat, ist die Tatsache, dass Clement Harris im Programmheft als ‚innigster Freund von Wagners Sohn Siegfried‘ bezeichnet wird, ansonsten aber rein gar nichts zu deren Beziehung gesagt wird. Ist es im Jahr 2018 wirklich so schwer, Dinge beim Namen zu nennen in einem Klassikkonzert? Vor allem wenn Peter P. Pachl Intendant der Berliner Symphoniker ist und einer der Kuratoren der Siegfried-Wagner-Ausstellung im Schwulen Museum 2017 war.
Das Mirakel
Apropos Schwules Museum: Dort war 2010 eine Ausstellung über den Theatermacher Erik Charell zu sehen, der vor seiner Zeit als Revue- und Operettenregisseur ('Im weißen Rössl') Teil von Max Reinhardts Produktion von 'Das Mirakel' war, ein Massenspektakel, mit dem Reinhardt auch in die USA reiste. Dieses Mammutwerk mit Musik von Engelbert Humperdinck wurde 1912 verfilmt. Kurz vor Weihnachten spielen die Berliner Symphoniker das Stück kombiniert mit wiederentdeckten Filmausschnitten, mit Oratorien- und Kinderchor. Das ist eine echte Sensation, die volle Aufmerksamkeit verdient.
Kritik von Dr. Kevin Clarke
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Very British: Paradise Lost und Rule Britannia
Ort: Philharmonie (Grosser Saal),
Werke von: Edward Elgar, Richard Wagner, Sir William Walton, Ralph Vaughan Williams
Mitwirkende: Berliner Symphoniker (Orchester)
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